Sehn-Sucht – Brief an eine Freundin

Dieser Beitrag von Vera Kolbe ist zuerst in ChrisCare, Magazin für Spiritualität und Gesundheit, 1/2017 erschienen.

Liebe Annette,
herzlichen Glückwunsch! Du mutige Frau. Endlich hast du das Tabu gebrochen. Wie gut, dass du nun sagst: „Mein Mann ist alkoholkrank!“

Ich erinnere mich noch an eure Hochzeit. Dann kamen Lisa und Julian auf die Welt. Beruflich war viel los und ihr habt das Haus gebaut. Als Gerhard anfing häufiger „einen über den Durst zu trinken“, fiel es zuerst gar nicht so auf. Bei dem Stress eben. Irgendwann wurde es regelmäßiger. Als ich mir ein Herz fasste und dich darauf ansprach, hast du abgewiegelt. Wie ich nur darauf käme, war deine Antwort. Du hast ihn verteidigt, ihn erklärt. Ja, du hast zu ihm gehalten.

Du bist wirklich eine treue Seele. Das spüre ich auch in unserer Freundschaft. Das habe ich dir noch gar nicht richtig gesagt. Danke, liebe Freundin. Das ist wirklich eine Stärke von dir. Nur ist dir das auch zum Verhängnis geworden. Über das „Zu-ihm- halten“ hast du die Treue zu dir selbst vergessen.

Ich habe deine Belastung sehr wohl wahrgenommen, aber ich fühlte mich irgendwie hilflos. Letztlich habe ich auch „mitgespielt“. Dabei habe ich gesehen, wie viele Aufgaben du von Gerhard übernommen hast. Du hast ihn entschuldigt. Und deine Gefühle? Emotionale Achterbahnfahrt. Du hast das bei unserem letzten Treffen so eindrücklich geschildert. Das Hin- und Hergerissensein zwischen Liebe, Ärger und Wut. Einer Wut, die du manchmal gar nicht gespürt hast. Das andere lag oben auf, Strichliste führen, um ihm zu zeigen, wie viel er trinkt und gleichzeitig ihn bei seinem Chef entschuldigen. Wie sagtest du noch: „Irgendwann drehte sich alles um den Alkohol!“ Kein Wunder, dass du häufig Kopfschmerzen hattest und dir nachts der Schlaf geraubt wurde. Du hattest dich selber verloren.

Liebe Annette, du hast dich zurück gewonnen. Du bist eine mutige Frau. Ja, dein Mann ist alkoholkrank. Du brichst das Tabu. Sicherlich kein leichter Schritt. Ich stelle mir vor, dass sich vieles noch fremd anfühlt. Du entdeckst dich wieder und fragst dich manchmal: Wer bin ich überhaupt? Wer will ich sein?

Du lernst, dir deine Schuldgefühle abzugewöhnen, denn du bist nicht verantwortlich für seine Erkrankung. Du beginnst deinen Lebensstil zu suchen und zu führen. Wie gut, dass du dir Unterstützung gesucht hast. Dein Netzwerk ist schon recht groß: die Selbsthilfegruppe, deine Freundinnen, der Sportverein, der so lange brach lag… Ich bin gespannt, was du noch alles neu für dich entdeckst. Vielleicht magst du mit in den Gottesdienst kommen. Für mich ist es ein heilsamer Ort. Oder was hältst du von Kino?

Ich wünsche dir so vieles für deine nächste Wegstrecke. Hoffentlich klingt es nicht zu altklug….aber: Lebe dein Leben. Übernimm für dich Verantwortung nicht für ihn. Gib die Verantwortung an ihn zurück. Versuche nicht ihn zu verändern. Rede weiter mit deinen Kindern. Nimm dich in den Blick, du tolle Frau. Bleibe konsequent!

Ich finde, du gehst schon viel aufrechter durchs Leben. Und du lachst mehr als früher. Erst jetzt fällt mir auf, wie sehr ich das vermisst habe. Fühle dich von mir umarmt. Und wann kochen wir endlich wieder zusammen?

Deine Sabine

Ein fiktiver Brief von einer Sabine an eine Annette
von Vera Kolbe
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Pastorin Vera Kolbe ist
Klinikseelsorgerin in der
Immanuel Klinik Rüdersdorf
in Rüdersdorf bei Berlin

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